»La Storia«, das ist die »große« Geschichte: die nüchterne Chronik von Diktaturen, Weltkriegen und Menschheitsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der jedes Kapitel dieses Romans eröffnet. »La Storia« ist aber vor allem die Geschichte der verwitweten Lehrerin Ida in den Jahren 1941 bis 1947. Bis zur Erschöpfung hetzt sie in Rom zwischen den Armenvierteln San Lorenzo und Testaccio hin und her, müht sich ab, ihre beiden Söhne durchzubringen. Nino, der ältere Sohn und präpotente Schwarzhemdträger, will lieber heute als morgen das Lyzeum verlassen und in den Krieg ziehen. Später findet er sich bei den Partisanen wieder. Der kleine Useppe, gezeugt bei einer Vergewaltigung durch einen jungen Wehrmachtsoldaten, immer heiter und neugierig, verbringt seine Tage allein in der Wohnung, manchmal in Gesellschaft des ebenso liebenswerten Hundes Blitz. Inmitten von Bombenangriffen, Hunger und Deportationen wächst Idas Angst, ihre jüdischen Vorfahren könnten der Familie zum Verhängnis werden. Mit unendlicher Zuneigung für ihre Figuren und einer Klarheit ohne jedes Pathos verknüpft Elsa Morante die Geschichte einer Welt in Flammen mit dem Schicksal einer Frau und ihrer Kinder. In der einfühlsamen und sorgfältigen Übersetzung von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski entfalten sich die Frische und Leichtigkeit des Romans - und die magische Sogwirkung, die er bis heute ausübt.
Turin ist nicht Wolfsburg und sah auch nie so aus - doch lange wurde die Stadt am Po-Ufer das Klischee der Industriemetropole von Fiat und Co. nicht los, trotz Alpenpanorama und barocken Palazzi. Und die stolzen Turiner galten als typische Vertreter des Nordens: kühl, regelbedürftig und so diszipliniert wie die Abwehr von Juventus. Alles Schnee von gestern, sagt Giuseppe Culicchia, selbst Italiener machen heute hier Urlaub - und er muss es wissen. Schließlich kennt Culicchia Turin wie sein eigenes Haus: vom Eingang (Bahnhof Porta Nuova) lädt er ein zum Flanieren auf dem Flur (unter den Arkaden der Via Roma), in die Küche (Porta Palazzo) oder zum Wühlen in der Abstellkammer (der Flohmarkt Il Balon). Nur bei der Wahl des Wohnzimmers kann er sich nicht entscheiden - denn in Turin gibt es bildschöne historische Cafés an jeder Ecke: unter anderem das Bicerin, wo schon Rousseau und Nietzsche zu Gast waren. Anekdotisch, ironisch und mit Insidertipps führt Culicchia hinter die Fassaden seiner Heimatstadt. Und er lässt andere Turiner von ihrer Stadt erzählen: zum Beispiel Focaccia-Bäcker und Gianduiotti-Créateure. Denn die Turiner scheinen das Naschen quasi erfunden zu haben ...
Es beginnt mit einer Rückkehr und einem rätselhaften Manuskript: Julio hat die Schriftstellerin Aliza seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Und doch soll gerade er, ein Costa Ricaner, der schon lange in den USA lebt, nach ihrem Tod entscheiden, was mit Alizas letztem Buch geschieht. Gebannt und bald nicht mehr nur lesend folgt Julio den Fährten, die er in dem Manuskript zu erkennen glaubt. Seine Suche gerät zur Reise quer durch Lateinamerika und tief hinein in die Geschichte: von der völkischen Kolonie Nueva Germania in Paraguay, gegründet von Elisabeth Förster-Nietzsche, über einen indigenen Stamm im Amazonas, der mitsamt seiner Sprache ausgelöscht wird, bis hin zu den Bürgerkriegen in Guatemala und Nicaragua, die europäische Rucksacktouristen und Hippies hautnah miterlebten - auch Aliza. »Austral« ist literarische Spurensicherung und Expedition zugleich: Carlos Fonseca entfaltet einen Echoraum, in dem sich historische und fiktive, aber immer wahre Geschichten kreuzen - über den Süden als Ort europäischer Faszinationen, Enttäuschungen und Ausbeutungen. Ein brillanter politischer Roman über die Spiralen der Erinnerung und die Frage: Wie lässt sich erzählen, was für immer verschwunden ist?
Seine Liebe zu Büchern entdeckte Alan Bennett früh. Im Gefolge von Dr. Doolittle begann er in der Armley Public Library in Leeds diesem Hobby ausgiebig zu frönen, obwohl seine Mutter Bücher aus der Bibliothek als unhygienisch empfand. Bis heute liest Bennett gerne ausgeliehene Bücher und erfreut sich an hineingekritzelten Kommentaren. Seine eigenen Lektüreeindrücke, akkurat vermerkt in seinen detaillierten Tagebüchern, zeugen von seiner wilden Phantasie (inklusive Spekulationen über pikante Szenen im Leben anderer Schriftsteller), überbordendem Humor (nichts ist ihm heilig) und Argwohn gegen jede Bildungshuberei (manches Sachbuch hält da nicht stand). Während er beispielsweise Puschkin bräsig, Achmatowa banal und Isaiah Berlin langatmig findet oder Saul Bellow »Designerprosa« vorwirft, ist er verzückt von W.¿G. Sebald, Philip Roth, Ludwig Wittgenstein oder auch hierzulande kaum bekannten Autoren wie Denton Welch und Philip Larkin. Sein unerreichter Held aber ist Franz Kafka, und nichts ist ihm lieber, als sich diesen in Shorts am Gartenzaun in Letchworth vorzustellen, in Begleitung junger Damen, die ihm die Socken hochziehen.
Buenos Aires, 1933. Die Krise ist überall, die Stadt ein Pulverfass. Ablenkung bietet nur der Fußball, der gerade als Volksdroge entdeckt wird. Ausgerechnet jetzt verschwindet der berühmteste Spieler des Landes - angeblich um mehr Gehalt von seinem Verein River Plate zu erpressen. Oder hat er doch etwas zu tun mit dem mysteriösen Tod eines Mädchens aus der Oberschicht?
Andrés Rivarola, ein charmanter Tagedieb und verhinderter Tangodichter, will eigentlich nur einem Bekannten, dem Kokain-Dealer des Fußballers, aus der Patsche helfen. Mit dabei: Raquel, eine polnische Jüdin mit zurückgegelten roten Haaren, die elegante Herrenanzüge trägt und wenig von festen Bindungen hält. Sie ist entschlossen, die Wahrheit über den Tod ihrer Freundin herauszufinden. Ungebremst schlittert das Duo in eine politische Verschwörung hinein, die um einige Nummern zu groß ist für die beiden.
Mit viel Sprachwitz lässt Martín Caparrós das Buenos Aires der dreißiger Jahre lebendig werden: halbseidene Bars, verqualmte Zeitungsredaktionen, skurrile Nebenfiguren, Dichtercafés, faschistische Aufmärsche, dampfende Schlachthöfe - ein Tango am Abgrund.
Ein englisches Mittelklasse- Ehepaar ist sich nicht ganz sicher über seinen Platz in der Gesellschaft. Während er jegliche Form von »Angeberei« ablehnt, hegt sie gewisse gesellschaftliche Ambitionen, die aber schon im Diskussionskreis der örtlichen Kirche scheitern. Der wohl bekannteste britische Autor der Gegenwart entfaltet diese wahre Geschichte seiner Eltern zu einem hinreißend erzählten, komischen und anrührenden Familienkaleidoskop, das mehr als ein halbes Jahrhundert umspannt. Ergreifend ist besonders die Schilderung der dezenten, aber allumfassenden Liebe seiner Eltern, die es ohne einander kaum aushalten konnten. Wir lernen aber nicht nur seine Eltern und Großeltern kennen, sondern auch zahlreiche seltsame Onkel und Tanten, denen wir schon in vielen anderen Texten Bennetts begegnen konnten, darunter die keinem Abenteuer oder Drink abgeneigten Tanten Myra und Kathleen. Gerade durch diese Bezüge zu seinem Werk offenbart sich der Autor Alan Bennett zum ersten Mal auf ganz persönliche Weise. In einem Feuerwerk aus Anekdoten beschreibt Bennett das Leben seiner hilflos- schüchternen Eltern und ihrer anscheinend viel gewitzteren Verwandtschaft. Eine Familie wie andere - und doch gibt es einen Unterschied: Als seine Mutter plötzlich in eine heftige Depression verfällt, entdeckt Bennett ein seit Jahrzehnten gehütetes Familiengeheimnis.
Überwacht von einem unbestechlichen Gesandten der übergeordneten Kirchenbehörde, zelebriert Pater Jolliffe einen Gedenkgottesdienst für den Bettgefährten der beautiful people von London, einen auch ihm selbst wohlbekannten Mann. Unerwartete Enthüllungen der versammelten Hinterbliebenen sorgen dafür, dass die traurige Zeremonie einen rasanten Wandel durchläuft.
Noch heute werden unsere Vorstellungen von einer schönen Landschaft durch das Bild einer idealen Natur bestimmt, das die Englischen Gärten des achtzehnten Jahrhunderts entwarfen. Hans von Trothas Reise in die Geschichte des Englischen Gartens führt in zwölf der bedeutensten, originellsten und schönsten Parks Großbritanniens, die man alle noch heute besuchen kann. Unterwegs erfahren wir, wie die neue Gartenkunst aus dem Geist politischer Opposition entstand und was es mit den nachgebauten griechischen Tempeln und gotischen Ruinen auf sich hat. Das Vorwort gibt einen historischen Abriss der Anfänge des Englischen Gartens, der Anhang einen Überblick über die wichtigsten Nachfolgegärten in Deutschland. Ob zuhause auf dem Sofa oder auf einer englischen Parkbank: eine Englandkarte, Stiche und Gartenpläne helfen nicht nur der Orientierung, sondern auch der Phantasie.
Helene Hanff verbringt den Sommer im Central Park, Teju Cole spaziert durch Chinatown, Maeve Brennan kann mit der Sixth Avenue nichts anfangen (außer bei Schnee), Piri Thomas behauptet sich in Spanish Harlem, Andy Warhol staunt über Bäume in Manhattan, Paul Auster über eine Straßenkreuzung in Brooklyn Heights, Dinaw Mengestu findet in Brooklyn zwischen Pakistanern ein Zuhause, Suketu Mehta nimmt ein Stück Bombay mit nach Queens und Elliot Weinberger träumt gar von den vereinigten Staaten von New York.
Jeder Sturm hat seine Gründe, jedes Schicksal seinen Ursprung. Wie eine gelassene, weil machtlose Göttin sitzt die Großmutter inmitten von Zikadengezeter in der trägen Luft der Mittagshitze, als sie es Lina erklärt: warum ihre Freundin Dora einen Mann heiraten wird, der sie schlägt - und welche generationenalte Schuld sie unabwendbar ins Unglück zu führen scheint. Viele Jahre später versucht Lina zu begreifen und zu erzählen: nicht nur von Dora, auch von Catalina, Beatriz und sich selbst. Alle sind sie jung, schön und reich, Teil der so konservativen wie frivolen Elite Barranquillas, einer Stadt an der kolumbianischen Karibikküste. Es sind Geschichten von Freiheitsträumen und Demütigungen, von weiblichem Begehren, von Sex und Unterwerfung, kolonialem Erbe und den Verbrechen der Erziehung - vor allem aber Geschichten von Frauen, die zum Skandal werden. Marvel Morenos Sprache ist ein Ereignis: bildgewaltig, mal sarkastisch-fies, mal sinnlich, immer unerbittlich tiefenscharf. Ein lebenssattes lateinamerikanisches Sittengemälde der fünfziger Jahre, ein allzu lange verborgener Schatz der Weltliteratur - endlich in herausragender deutscher Erstübersetzung.
Angesichts der großen Besucherscharen, die jedes Jahr durch das toskanische Pienza ziehen, vermag man sich kaum vorzustellen, dass dies einst ein abgelegenes Provinznest war. Der heute fein herausgeputzte Ort bietet nicht nur den berühmten Pecorino und den atemberaubenden Blick auf das Weltkulturerbe Val d'Orcia. Die malerischen Gassen beherbergen ein einzigartiges Kunstwerk, die erste geplante Stadt der Renaissance. Papst Pius II. Piccolomini, zentrale Figur des Humanismus und bekannt durch viele Schriften, hat seinen Geburtsort Corsignano für nur wenige Jahre (1458-1464) dem Schlaf entrissen und nach einem Entwurf des Florentiner Architekten Bernardo Rossellino zur »Piusstadt« umbauen lassen. Das Denkmal, das er sich selbst gesetzt hat - mit Dom, Wohnpalast, den Residenzen und profanen Gebäuden -, gibt ein genaues Bild seiner künstlerischen und intellektuellen Vorstellung eines idealen Gemeinwesens. Piccolomini leistet damit, wie Andreas Tönnesmann gewohnt mitreißend und anschaulich darstellt, einen wichtigen Beitrag in der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Gestalt der Stadt.